Bevölkerungszahlen in römischer Zeit

Einer meiner alten Blogposts, welcher ursprünglich im Dezember 2014 auf Sardisverlag.de veröffentlicht wurde. Da er sich thematisch direkt auf die Imperium Romanum Karte bezieht, wollte ich ihn hier bewahren, da die Sardis Verlag Seite in ihrer jetzigen Form demnächst offline gehen wird.  

Eine spannende und oftmals gestellte Frage ist die nach den Bevölkerungszahlen antiker Städte und Staaten. Hier möchte ich einige Worte über den Versuch verlieren für einige in unserer Karte der römischen Welt dargestellte Gebiete Bevölkerungszahlen anzugeben. Die Einwohnerzahlen herausragender und typischer Städte dieser Zeit werde ich später in einem weiteren Post behandeln.

Der römische Staat führte, so wie andere antike Staaten auch, regelmäßig einen Zensus durch, in welchem die komplette Bevölkerung und deren Besitzverhältnisse erfasst wurden. Anlass war zunächst primär die Erfassung des militärischen Potentials des Staates, während im Kaiserreichs die Datenerhebung nur noch Zwecken der Besteuerung diente. Allerdings sind Ergebnisse dieser Bemühungen nur sehr punktuell erhalten, etwa durch Fragmente von Steuerlisten der Provinz Aegyptus oder durch die gelegentliche Nennung der Einwohnerzahlen einzelner Städte in Literatur und Inschriften. Am wertvollsten zur Verfolgung der Einwohnerzahlen eines größeren Gebiets ist dabei die regelmäßige Nennung der Anzahl römischer Bürger in diversen Quellen, welche eine vom 3 Jhdt. v. Chr. bis zum Prinzipat des Claudius reichende Reihe ergibt. Entsprechend konzentrieren sich wissenschaftliche Publikationen und Debatte auf die Frage der Einwohnerzahl des römischen Italiens, die als Maßstab für andere Provinzen und somit zur Abschätzung der Gesamtbevölkerung äußerst relevant ist.

Sämtliche Zahlen sind jedoch mit Problemen behaftet. So ist meist unklar, welche Bevölkerungsgruppen in der veröffentlichten Nummer enthalten sind. Bei Städten kommt hinzu, dass sich die Bevölkerungszahl auf das gesamte, meist nicht genau bekannte, Territorium eines Stadtstaates und nicht nur auf den archäologisch gut fassbaren urbanen Kern bezieht. Besonders bei ländlich geprägten Städten sollte man sich der unterschiedlichen Definitionen des Begriffs Stadt in der griechisch-römischen Antike und unserer Gegenwart stets bewusst sein. Für Griechen und Römer war eine "Stadt", Polis bzw. Civitas das Gemeinwesen all ihrer Bürger, nicht der Einwohner des ummauerten Kerns. So können sich die Bevölkerungszahlen für diese Klasse in antiken Quellen und auch in der modernen Literatur leicht um einen Faktor 4 unterscheiden, je nachdem welche Definition vom Autor zugrunde gelegt wurde.

Im Falle Italiens springt die zuvor konsistente Zahl römischer Bürger von einer Million zum Zeitpunkt des letzten überlieferten republikanischen Zensus von 70 v. Chr., auf vier Millionen im ersten Zensus des Augustus, durchgeführt 28 v. Chr.. Zwischen diesen beiden, sich um einen Faktor vier unterscheidenden Zensus liegen die Wirren der Bürgerkriege und die Etablierung des Kaiserreichs. Eine Änderung der den veröffentlichten Daten zugrunde liegenden Personengruppe scheint dadurch sehr wahrscheinlich, ist zur Erklärung der Differenz aber nicht zwingen erforderlich, da das Bürgerrecht in der Zwischenzeit auch an größere Personengruppen, wie die Bewohner ganzer Städte und Regionen, wie primär der ehemaligen Provinz Gallia Cisalpina, vergeben worden war. Die Diskussion wird von zwei Szenarien dominiert und den beiden Artikeln Roman population size: the logic of the debate von W. Scheidel und Ancient statistics and the rise of demography: a historiography of demographic debate on Roman Italy von S. Hin [1] genauer dargestellt. Der sogenannte low count geht davon aus, dass in republikanischer Zeit die Zahl nur Männer im wehrfähigen Alter umfasste, seit Augustus aber alle Bürger inklusive Frauen und Kinder beinhaltet sind. Im high count bleibt die Systematik unverändert, was somit zu stark unterschiedlichen Bevölkerungszahlen für die kaiserzeitliche Halbinsel führt. Es existieren eine Vielzahl an Unsicherheitsfaktoren, wie der Anzahl außerhalb Italiens lebender römischer Bürger, sowie einige gute Konsistenzargumente für (bzw. gegen) beide Varianten. Insgesamt scheint die Mehrzahl der Forscher dem low count als plausiblerem Szenario zuzuneigen. In jüngerer Zeit ist mit dem middle count eine überzeugende dritte Variante (wieder) aufgekommen, welche im u.a. in einem weiteren Artikel von Hin erläutert wird, nach welcher seit Augustus alle rechtsmündigen Personen beiderlei Geschlechts und aller Altersklassen in die veröffentlichten Zahlen eingehen. Durch diese Interpretation entstehen aber wiederum neue Unsicherheiten in der Berechnung.

 

Auch die Archäologie kann meist nur begrenzt zur Lösung des Problems beitragen. Nur wenige Regionen sind hinreichen gut erkundet, um eine sichere Aussage über die Zahl der Siedlungsstellen und deren Größe machen zu können. Selbst bei ergrabenen Gebäuden lässt sich die Anzahl der Bewohner nur mit großem Fehler schätzen, und selbst bekannte Städte können meist nicht so vollständig untersucht werden, dass sich Aussagen über die Wohnraumdichte innerhalb ihres Mauerrings machen ließen. Jedoch ist hier, durch die Akkumulation großer Datenmengen über Jahrhunderte archäologischer Tätigkeit hinweg, sowie die zunehmend genutzten Möglichkeiten moderner Fernerkundung und geophysikalischer Verfahren, ein großes Potential zur schnellen Erkundung ausgedehnter Flächen vorhanden.

Diese Problematiken und Unsicherheiten sollte man beim Betrachten der folgenden Zahlen für das Römische Reich und einiger benachbarter Regionen im Blick behalten.

 

 

Imperium Romanum

 

Globale Schätzungen

 

Für das Römische Reich sind in der Literatur zumeist Bevölkerungszahlschätzungen zu zwei Zeitpunkten zu finden. Einerseits wird aus den oben angerissenen Überlegungen heraus die Bevölkerungszahl für das Todesjahr des Augustus (14 n. Chr.) bestimmt, andererseits finden sich in der Literatur oft Berechnungen für das Jahr 165 n. Chr. als sich die Antoninische Pest im Reich auszubreiten begann. Letzteres wird als dessen demographischer Höhepunkt betrachtet, auch weil die unbekannten Folgen dieser Seuche und das bald darauf folgende Chaos der großen Krisen des 3. Jahrhunderts eine verlässliche Simulation der weiteren Entwicklung unmöglich machen.

Eine low count Schätzung für das gesamte Römische Reich, welche zuerst von Julius Beloch, einem der Pioniere des Forschungsgebietes, versucht wurde, ergibt für 165 n. Chr. Bevölkerungszahlen im Bereich von über 60 Millionen Menschen. Wird die Logik des high count Ansatzes dagegen auf das Gesamtreich übertragen, können sich Werte von über 100 Millionen ergeben. Das zeitgenössische chinesische Han Reich, von welchem vollständige Zensusdaten erhalten geblieben sind, hatte bei ungefähr gleicher Größe wie das Römische Imperium ebenfalls eine Bevölkerung von ca. 60 Millionen Einwohnern.

In jüngerer Zeit hat Scheidel [2] eine solche Schätzung basierend auf einem dem low count nahestehenden Ansatz vorgelegt, für welche in angepasster Form Bevölkerungszahlen von Frier [3] übernommen wurden, der wiederum die von McEvedy und Jones [4] für 14 n. Chr. vorgelegten Zahlen modifizierte und bis 165 n. Chr. weiterführte. Das Resultat von Scheidel ist hier in der untenstehenden Tabelle wiedergeben. Die Bevölkerungsdichte bezieht sich jeweils auf die landwirtschaftlich nutzbare Fläche einer Provinz. Sie ist für Ägypten beispielsweise auf die 30.000 km² des Niltals und Nildeltas beschränkt, während die extensiven Wüstengebiete nicht mit eingerechnet wurden. Daten in Klammern beziehen sich auf durch die Akzeptanz des middle count Modells notwendige Modifikationen für Italien.

 

 

Provinz Bevölkerung in Mio.  Bevölkerungsdichte in Personen / km²
Italia 8 – 9  (12 – 13) 26 – 29  (39 – 42)
Hispania 7 – 9 12 – 15
Gallia et Germania  9 – 12 13 – 18
Britannia  1,5 – 2 9 – 13
Donaugebiet 5 – 6   8 – 9
Griechenland   2,5 – 3  16 – 19
Kleinasien 9 – 10  14 – 15
Syrien und Zypern  5 – 6 36 – 43
Ägypten 5 – 6  167 – 200
Afrika  7 – 8 17 – 19
     
Total 59 – 72  (63 – 76) 16 – 19  (17 – 20)

 

 

Stichproben – Die römische Bevölkerung Deutschlands

 

Für einige Regionen liegen auf archäologischen Daten basierende Schätzungen vor, die genutzt werden können, um die Plausibilität einer globalen Schätzung zu überprüfen. Etwa eine von K.P. Wendt und A. Zimmermann vorgelegte Studie zur Bevölkerungsdichte im ehemals römischen Teil der heutigen Bundesrepublik Deutschland in der Mitte bis zur zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr.. Eine elektronische Version wird gegenwärtig vom Autor über researchgate.net zur Verfügung gestellt. Ihr Ansatz besteht darin, Daten zur Besiedlungsdichte aus besonders gut erforschten oder sogar nahezu vollständig erfassten Regionen, wie beispielsweise den Braunkohletagebauen Nordrheinwestfalens, heranzuziehen, um damit durch Hochskalieren Rückschlüsse auf größere Siedlungsgebiete zu ziehen, welche nach archäologischen Fundkarten klassifiziert werden.

Für das Rheinland, in etwa zwischen den Städten Augusta Treverorum in Gallia Belgica und der Colonia Ulpia Traiana in Germania Inferior, ergibt sich eine Bevölkerungsdichte von 11-18 pro km², welche gut zu den für die Region erwarteten Werten der Schätzung passen.

Für den gesamten römischen Teil des heutigen Deutschlands standen den Autoren weniger detaillierte Fundkarten zu Verfügung. Weiterhin wurde das Fehlen einer ähnlich detaillierten Regionalstudie für die römische Nutzung des Mittelgebirgsraums bemängelt, so dass ein höherer Fehler zu erwarten ist. Es ergab sich eine Bevölkerungsdichte zwischen 4,8 und 10 Einwohnern pro km², ohne das Rheinland von 4 bis 9 pro km². Dieser deutlich niedrigere Wert ist durch das nur sehr dünn besiedelte, aber flächenmäßig stark eingehende Raetien und die ebenso siedlungsarmen Gebiete des heutigen Schwarzwaldes und der schwäbischen Alb im Dekumatland bedingt. Auch war das Dekumatland vor der römischen Annexion und Wiederbesiedlung für über 100 Jahre nahezu menschenleer, wodurch eine niedrigere Bevölkerungsdichte im Vergleich zum Rest der Provinz Germania Superior zu erwarten ist. Trotzdem passen diese Zahlen immer noch gut zum sich anschließenden weiteren Donauraum.

 

 

Garamanten

 

Das Territorium des einstigen Königreichs der Garamanten (Feld E7 der Karte) ist seit Beginn dieses Jahrtausends Ziel umfangreicherer Feldforschungen, nachdem diesem Bereich, wie den meisten Wüstengebieten, zuvor nur geringe Beachtung geschenkt wurde. Zudem sind von den italienischen Kolonialbehörden Anfang der 1930iger Jahre erhobene Zensusdaten verfügbar, als die dortigen Lebensbedingungen noch denen in der Antike glichen. Das Königreich erlebte sein Blütezeit in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, für welche auch diese Zahlen gelten.

Für das Kernland des Garamantenreichs, die Oasengürtel des heutigen Fezzan um die Hauptstadt Garama, geht D. Mattingly [5] von einer Bevölkerung von 50.000 bis 100.000 Menschen aus, während der italienische Zensus eine Zahl von 33.000 ergab. Die höheren antiken Werte sind zurückzuführen auf Surveys, sowie den Nachweis zahlreicher in diese Periode zu datierender Foggaras (Im Nahen Osten auch als Qanate bezeichnete Bewässerungsanlagen), mit welchen damals noch wasserführende Grundwasserleiter angezapft wurden und somit auch die Fläche bewässerten Landes signifikant erhöht werden konnte.

Für die Oasengruppe um Ghat im Südwesten des Königreichs, das möglicherweise und auf der Karte mit dem antiken Rapsa zu identifizieren ist, geht der dort tätige D. Liverani [6] von einer Bevölkerung von ungefähr 4.000 Personen, im Einklang mit den Zensusdaten, aus.

 

Germanania

 

Bezüglich der Germania schätzte G. Stangl [7] die Mitgliederzahl der einzelnen Stämme zwischen Rhein und Weichsel ebenso basierend aus archäologischen Daten ab. Aus der räumlichen Verteilung von Funden und fundleeren Bereichen wurde das Territorium der jeweiligen Stämme berechnet und sodann mit einer sich ebenfalls daraus ergebenden möglichen Bevölkerungsdichte multipliziert. Die Rechnung wurde für die Machtverhältnisse der Zeit um 50 n. Chr. durchgeführt, wobei er aber von einer relativ konstant bleibenden Gesamtbevölkerungszahl für die ersten beiden Jahrhunderte unserer Zeit ausgeht. In der Summe ergibt sich diese zu 1,6 bis 2,4 Millionen Menschen.

 

 

Weitere nicht verlinkte Literatur

 

[1] S. C. Hin,  Ancient statistics and the rise of demography: a historiography of demographic debate on Roman Italy, in: Haake, M., Harders, A.-C. (Hrsg.): Die politische Kultur und soziale Struktur der römischen Republik : Beiträge einer internationalen Konferenz aus Anlaß des 70. Todestages von Friedrich Münzer, Münster, 20.–22. Oktober 2012, Franz Steiner Verlag (2016).

[2] W. Scheidel, Demography, in: W. Scheidel, I. Morris, R. Saller (eds.), The Cambridge economic history of the Greco-Roman world, Cambridge University Press (2007), 38-86.

[3] B. W. Frier, Demography, in: A. K. Bowman, P. Garnsey, University of Cambridge, D. Rathbone (eds.), The Cambridge Ancient History Volume 11. The High Empire, AD 70–192, Cambridge University Press (2000), 787-817.

[4] C. McEvedy, R. Jones, Atlas of World Population History, Puffin (1978).

[5] D. J. Mattingly, The Garamantes: the First Libyan State, in The Libyan Desert: Natural Resources and Cultural Heritage, Society for Libyan Studies Monograph number 6 (2006).

[6] M. Liverani (ed.), Aghram Nadharif. The Barkat Oasis (Sha 'abiya of Ghat, Libyan Sahara) in Garamantian Times, AZA Monographs Vol. 5. Florence: All'Insegna del Giglio (2005).

[7] G. Stangl, Bevölkerungsgrößen Germanischer Stämme im 1. Jh. n.Chr., in: K. Tausend, Im Inneren Germaniens: Beziehungen zwischen den Germanischen Stämmen vom 1. Jh. v. Chr. bis zum 2. Jh. n. Chr., Geographica Historica 25, Franz Steiner Verlag (2009).

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